Was machte man an einem verregneten Samstag-Nachmittag, zumal wenn man von draussen mit „Liebe Mitbürgerinnen und Mitbürger, bleibt zu Hause“ beschallt wurde? Schach gucken, was sonst? Schach spielen im Internet ginge auch, das ist nicht Thema dieses Beitrags. Dass das Kandidatenturnier stattfindet ist ja umstritten, aber ich „boykottiere“ es nicht – ich bin doch nicht Vladimir Kramnik! Der kann sich das leisten – andere müssen es (zumindest aus eröffnungstheoretischer und -praktischer Sicht) verfolgen für den Fall der Fälle, dass sie selbst mal wieder am Brett sitzen. Live muss allerdings nicht unbedingt sein – es wird noch einige Zeit dauern, bevor im Rest der Welt wieder „Normalität“ einkehrt statt nur in Jekaterinburg, und selbst da ist das Virus irgendwie präsent.
Schwerpunkt des Berichtes wird nun Schach, mit ab und zu ein bisschen zum Thema das insgesamt dominiert. Unter der Woche hatte ich live nur die Eröffnungsphase verfolgt – da hatte ich Mittagspause, danach wieder home office. Nun ist Wochenende, und was machten die Protagonisten in Jekaterinburg? Remis spielen, wobei man ihnen in jedenfalls einer von vier Partien keine Absicht unterstellen kann (trotz Eröffnung mit remislichem Ruf).
Zuvor gab es einige Partien mit Sieger und Verlierer, und damit ergibt sich dieser Zwischenstand: Nepomniachtchi, Vachier-Lagrave und Wang Hao 2.5/4, Caruana und Grischuk 2, Ding Liren, Giri und Alekseenko 1.5. Das sind die nackten Fakten – was das für den Status der „klaren Favoriten“ Caruana und Ding Liren und der sechs anderen Spieler bedeutet, wissen wir nach vierzehn von vierzehn Runden (unter der Annahme, dass 14 Runden gespielt werden). Caruana und Ding Liren planen voraus – bei Punktgleichheit am Ende ist „meiste Niederlagen“ relevant.
Aber der Reihe nach mit erst „Runde null“. Fotos stammen von der FIDE-Flickrseite, fotografiert hat „photographer / FIDE“, dahinter verbergen sich Maria Emelianova und Lennart Ootes.
Anish Giri mit Erwin l’Ami – so eine Überraschung! Laut einem Giri-Interview vorab wollten sie auch seinen ersten Gegner Nepomniachtchi überraschen – das hat dann funktioniert, aber anders als vermutlich geplant.
Die Pressekonferenz mit links Alekseenko
war relativ gut besucht, aber kein Vergleich zur Eröffnungsfeier:
Dieses Foto hat die Redaktion des Schachtickers (Kollege Franz Jittenmeier) rechtzeitig heruntergeladen. Inzwischen fehlt es auf der Originalseite, und das wird wohl so bleiben. Dagegen habe ich die Hoffnung noch nicht aufgegeben, in München WC-Papier zu erhalten: morgen werde ich es erneut in zwei, drei oder fünf Supermärkten versuchen. FIDE erklärte, dass zum Zeitpunkt der Eröffnungsfeier bei 93 (bekannten) Corona-Fällen in Russland Veranstaltungen mit bis zu 5000 Teilnehmern erlaubt waren und nahm dann doch Rücksicht auf den Rest der Welt.
Was wurde dem zahlreich erschienenen Publikum geboten? Neben Reden – fotografisch dokumentiert, aber das lasse ich mal außen vor – auch das:
Und das:
Corona-Virus? Offenbar nur in China (wobei Hou Yifan wohl aus Oxford anreiste):
Später trugen auch einige Nicht-Chines(inn)en Mundschutz, auf einem der von mir ausgewählten Fotos im Hintergrund sichtbar.
Organisatoren stellten neben Schachuhr und Reservedamen auch Desinfektionsmittel, und Spieler nutzten diesen Service – wie hier Grischuk,
der auch seinen Bart behandelte:
Sonst zeige ich nur ein paar Spieler individuell, noch hat sich ja niemand vom Feld abgesetzt.
Wang Hao ausgesprochen gut gelaunt, offenbar schon bevor er das Ergebnis der ersten Runde kannte – demnach freute er sich wohl darüber, dass er nicht in Quarantäne musste.
Da haben wir den Spieler mit dem langen Namen MHWAVL – Maxime hätte wenn und aber Vachier-Lagrave. Nach vier Runden konnte er alleine führen, aber Caissa (oder er selbst) hat anders entschieden. Es würde ohnehin nichts daran ändern, dass er am Ende Zeiter wird – bei dieser Prognose bleibe ich, bis Platz zwei (von oben oder von unten) mathematisch unmöglich sein sollte.
Giri spaziert auf der Bühne – machen er und andere ohnehin regelmäßig, aber nun verzichtet er nach eigener Aussage zwischen den Runden auf Spaziergänge an der frischen Luft: in Jekaterinburg ist es kalt und man könnte sich erkälten – wenn etwas momentan klar ist, dann dass derlei unklare Konsequenzen hätte.
Dubov kommentierte auf Russisch und hat in Runde vier dann plötzlich selbst mitgespielt.
Zunächst zwei allgemeine Erkenntnisse der ersten vier Runden, die zweite ist nicht ganz neu aber zunächst die erste: Beim Schach ist Einsatz der Ellenbogen nun erlaubt – auch vor laufender Kamera, im Fussball ja nur wenn Kamera und Schiedsrichter es nicht mitbekommen (aber Fussball pausiert momentan ohnehin). Dabei lassen sich alte Gewohnheiten allerdings schwer abstellen, Fotos dazu später.
Sowie: „Wer anderen eine Grube gräbt fällt selbst hinein“ – nicht neu, derlei gab es zuvor jedenfalls im WM-Match Kramnik-Leko. Eine „interessante“ Neuerung führt zwar zu Vorteil auf der Uhr – partieentscheidend ist sie aber nicht, oder mitunter (im höheren Sinne) in die andere Richtung. Das demonstrierten nun Giri und Caruana. Wenn Zeitnot automatisch zum Partieverlust führen würde, dann hätte Grischuk nun 0/4 – oder 0,5/4, da sein Duell gegen Landsmann Alekseenko auch in dieser Hinsicht unentschieden endete. Und schon sind wir bei
Runde 1:
Wenn Alekseenko schon Außenseiter im Turnier ist, dann bekommt er wenigstens einen bequemen Stuhl. Nein, auf dem Brett steht die Schlusstellung der Partie, Grischuk holte sich während der Runde einen einfachen Stuhl aus dem leeren Zuschauerbereich. Die Partie war turbulent, wie gesagt dann Remis. Grischuk spielte für seine Verhältnisse zügig: maximal 21 Minuten pro Zug, allerdings bereits deren 13 für die ersten vier Züge. MVL-Caruana wurde auch Remis, im Gegensatz zu den beiden anderen Partien.
So sehen Sieger aus? Nun, Nepomniachtchi musste gegen Giri durchaus schwitzen, aber später
Giri-Nepomniachtchi 0-1, was war passiert? Giri neuerte kreativ, objektiv war es wohl „unklar-interessant“. Nepo grübelte, neutralisierte das am Brett, spielte einmal den (laut Engines) zweitbesten Zug und schon musste auch Giri überlegen. Später spielte er – mein Eindruck – zu lange auf Gewinn und stand danach auf Brett und Uhr schlechter. So schlecht, dass er dem Gegner dann gratulieren musste.
Mit diesem Schwarzsieg konnte man eventuell rechnen, im Gegensatz zu
Ding Liren – Wang Hao 0-1!? Da stand Weiß zuvor gut, aber vielleicht war es nur rein optisch. Mit 30.f4 überspannte der bekanntere und elobessere Chinese dann den Bogen – endlos hin und her ziehen und auf gegnerische Fehler warten, diese Art Schach zu spielen beherrscht er eben nicht.
Runde 2 mit erstmals Vorher-Nachher, da werde ich mich wiederholen.
Nepomniachtchi und Grischuk vor der Partie – unklar, ob Nepo hier lacht oder doch Schmerzen verspürt.
Und hinterher. Was zwischendrin passierte: das Berliner Endspiel ist eben remis – es gibt Dinge, auf die man sich nach wie vor verlassen kann.
Alekseenko will dagegen hier aufgeben, Caruana ist nicht einverstanden und bekam trotzdem den vollen Punkt. Dieses Foto ist Teil einer Sequenz, beinahe hatte sich Caruana doch für „berührt-geführt“ entschieden. Rein schachlich: 1.d4 Sf6 2.c4 e6 3.Sc3 Lb4 4.f3!? – so hatte Caruana zuvor noch nie gespielt, aber es funktionierte nach Wunsch.
War da noch was? Giri zeigte Normalform und spielte Remis – auf dem Umweg über eine eventuell verlorene, jedenfalls verdächtige Stellung gegen Wang Hao. Und dann noch das:
MVL-Ding Liren 1-0: Tags zuvor war Dings 30.f4 falsch, nun war 15.-f5 auch falsch – der Franzose zeigte, warum.
Runde 3 mit der versprochenen Wiederholung:
Alekseenko-Nepomniachtchi vorher
und nachher. Ähnlich erging es mir in der bis auf weiteres letzten Runde der Münchner Bezirksliga, mit gewissen Unterschieden: Wir verzichteten vor der Partie auf Handschlag und Ellenbogencheck, und da war das Ergebnis 1-0. Mein Gegner streckte mir dann seine Hand entgegen, und ich akzeptierte – ich bin ja nicht Fabiano Caruana. Hier wurde es nach turbulentem Verlauf Remis. Schon die Eröffnung – Französisch und später Winawer – war eine Überraschung für Alekseenko, der bereits für (1.e4 e6) 2.d4 dreieinhalb Minuten investierte.
Grischuk-Wang Hao und Giri-MVL ebenfalls Remis, war da noch was? Ja, das Duell der beiden „haushohen Favoriten“, jedenfalls vor dem Turnier:
Ding Liren bekam Caruanas Hand, schließlich wurde er vor dem Turnier quarantänisiert. Ergebnis 1-0, warum eigentlich? Weil Ding Liren 7.f3 und dann 35.f4 spielte, das war das richtige Timing. Und weil Caruanas neues Konzept nicht den gewünschten Erfolg hatte. 9.Kf2 machten zuvor nur Spieler mit Elo unter 2700, allerdings Talente dieser Eloklasse – Giri und ein gewisser Ding Liren, beide anno 2010 und 2012. 9.-e5!??! machte zuvor niemand, diese Zeichensetzung soll andeuten, dass der objektive Wert äusserst unklar ist – abwarten, ob das nochmals versucht wird. Im weiteren Verlauf dann quasi ein klarer Klassenunterschied: Ding Liren kam mit der ihm unbekannten Stellung viel besser zurecht als Caruana, der das vorbereitet hatte! Ist Ding Liren damit nun der neue einzige Favorit? Nun ja, Runde 1 und 2 haben auch stattgefunden.
Man konnte lesen, dass Ding Liren „die Partie komplett drehte“ – schlechter stand er, soweit ich (bzw. Engines in niedriger Suchtiefe) es beurteilen können, wohl nie. Er musste eben denken und präzise Züge finden, das musste Caruana auch und scheiterte letztendlich. „Komplett gedreht“ hatte Caruana seine Partie gegen Anand in Wijk aan Zee, das war damals ein erster Schritt auf dem Weg zum Turniersieg.
Runde 4 alles remis, eingangs bereits erwähnt. Das könnte ich also ignorieren, aber doch ein paar Fotos und Worte:
Russland hat (soweit bekannt) zehnmal weniger Corona-Fälle als andere Länder, also reichen etwa 15cm Abstand zwischen Offiziellen. Wir bleiben noch bei dieser Partie:
Grischuk zieht, das soll es geben bzw. das muss eben sein – und zwar genauso oft wie der Gegner. Beziehungsweise noch öfter, da er offenbar auch an einer Zigarette zieht – aber das ist nicht fotografisch dokumentiert. Während der Partie ging es wohl, nachdem er die Zeitkontrolle erreicht hatte, zuvor lange Zeit nicht. Das lag vor allem an seinen dreiundfünfzig (53) Minuten für 18.-Se7 in einer noch theoretisch bekannten Stellung, sowie weiteren 21 Minuten nachdem MVL nicht 19.g4 (womit Grischuk „zu 100%“ gerechnet hatte) sondern 19.h4 spielte.
Am Ende war es dann so wie immer: das Berliner Endspiel ist remis. Diesmal musste es nicht sein: Grischuk hatte gepatzt aber MVL konnte das dann am Brett nicht beweisen – im entscheidenden Moment nahm sich der Franzose nicht die Bedenkzeit, die er durchaus noch hatte.
So sehen Sieger aus? Nein, Caruana-Nepomniachtchi wurde remis. Man konnte lesen, dass Caruana vielleicht Grünfeld widerlegt hatte – wenn überhaupt, dann ein seltenes Abspiel in der Abtauschvariante mit Lc4. Das ist derzeit etwas aus der Mode gekommen, auch von Caruana war es (wie seine anderen Eröffnungen im Turnier) überraschend. Das Konzept mit h2-h4-h5-h6 gab es bereits, lange vor AlphaZero machte das Vlastimil Hort – einigte sich allerdings mit Maia Chiburdanidze in Biel 1988 schon wenig später auf Remis.
Diesmal dauerte es etwas länger, spannend wurde es (auch aus Engine-Sicht) um den 30. Zug herum, da beide Spieler den Umgang mit Damen nicht perfekt beherrschten. Erst war Nepos 27.-Da3 und 28.-Da5 suboptimal, dann vergab Caruana seinen Vorteil mit 31.Df3. Später stand Weiß gar schlechter, allerdings nur symbolisch.
Wang Hao-Alekseenko und Ding Liren-Giri wurde auch remis. Entscheidend in der zweiten Partie war, dass Ding Liren seinen f-Bauern gar nicht bewegte. Giri auch nicht, wobei er „Dubov-style“ seinen h-Bauern vorschob und dafür später von Dubov selbst gelobt wurde.
Wie geht es weiter? Die fünfte Runde läuft bereits (Ding Liren spielte 12.-f6, abwarten was das bedeutet), nach derzeitigem Stand folgen danach neun weitere. Was danach passiert ist noch unklarer: Es gibt Gerüchte, dass US-Amerikaner SOFORT zurückkehren sollen und sonst endlos im Ausland bleiben müssen. Vielleicht dürfen ja auch Ding Liren und Wang Hao nicht nach Hause zurück, da China keine Corona-Viren importieren will. Derlei Dinge bleiben unklar bis sie sich klären, Schachengines helfen vorher nicht.
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