Kandidatenturnier findet statt
In Bayern wurden Schachveranstaltungen mit 16 Teilnehmern bis auf weiteres abgesagt – Mannschaftskämpfe aller Altersklassen, von U10 bis Senioren einschließlich Erwachsene. Dass beim nun abgesagten Bundesliga-Wochenende in München nicht 32, sondern 16 Spieler beteiligt gewesen wären, war schon länger bekannt und hat andere Gründe. Derzeitiger Stand ist, dass das Grenke Chess Classic mit 8 Teilnehmern stattfinden wird – im Gegensatz zum etwas grösseren Open – wobei sich das bis Ostern noch ändern kann.
Wie ist die Lage in Russland? Auch dort gibt es nun einschneidende Massnahmen: Kandidatenturnier ganz ohne Zuschauer, Fussball und Eishockey mit maximal 5000 Zuschauern. Damit ist in deutlich grösseren Stadien ein ausreichender Sicherheitsabstand zwischen Zuschauern möglich – ob er eingehalten wird, dazu werde ich nicht recherchieren. Jekaterinburg ist ja nicht vom Corona-Virus betroffen – jedenfalls nicht soweit bekannt.
Ich will die Situation wahrlich nicht bagatellisieren: München ist nahe an Italien, noch näher an Österreich, relativ viele waren dort vor kurzem noch im Urlaub. Und meine Mutter ist hier im Altersheim. Emil Sutovsky propagiert auf Facebook De-Eskalation, wobei die Originale auf Russisch sind und die Übersetzungen etwas holprig. Wie mir ein Schachfreund schrieb: es gibt offenbar selten einen Mittelweg zwischen „Sofort alles dicht machen!“ und „Ach, ist doch nur eine Grippe!“.
Anish Giri bleibt, nun ja, humorvoll. Das Titelfoto (Quelle sein Instagram-account) stammt vom Flughafen Amsterdam. Da ist das Risiko nach seiner Einschätzung offenbar grösser als in Jekaterinburg – auf neueren Fotos aus dem dortigen Hyatt-Hotel trägt er keinen Mundschutz. Fabiano Caruana hat er dort einen Händedruck verweigert, wobei derlei Gewohnheiten nicht nur unter Schachspielern schwer abzustellen sind: Beim vorläufig letzten Münchner Mannschaftskampf verzichteten wir vorab auf einen Händedruck, aber nach der Partie streckte mein Gegner seine Hand aus und ich akzeptierte. Damit ist auch klar, dass ich (zumindest an diesem Tag) Abwehrkräfte gegen das Giri-Virus hatte: zuvor vier Remisen und eine Niederlage, wobei ich in allen Partien jedenfalls zeitweise klar besser stand.
Ähnliches, was den Händedruck betrifft, passierte auch auf höherem Niveau (nicht in Elo auszudrücken). Der niederländische Ministerpräsident Mark Rutte hielt eine „keine Hände schütteln“ Rede und verstiess direkt danach noch vor laufender Kamera gegen seine eigene Regel. Angela Merkel versuchte das auch, aber bekam von einem ihrer Minister einen Korb. Beim Kandidatenturnier ist der Händedruck vor und nach der Partie „optional“.
Aber nun, da ja Schach gespielt werden wird (Stand bei Redaktionsschluss), zum Schach. Ich bleibe noch beim Favoriten Anish Giri – warum er Favorit ist kommt gleich. Leichtsinnig ist, dass auf einem Foto aus Jekaterinburg auch Erwin l’Ami auftaucht – das wussten seine Konkurrenten ja zuvor nicht, oder vielleicht doch. Wieviel er am Brett riskieren wird, weiß momentan allenfalls er selbst – wobei das vom, ebenfalls derzeit unbekannten, Turnierverlauf abhängen könnte.
Bei bisherigen Kandidatenturnieren gab es diverse Überraschungen und doch eine Konstante: Voraussetzung für den Sieg im Kandidatenturnier ist ein schlechtes Ergebnis bei der Generalprobe in Wijk aan Zee. Damit ist Caruana bereits chancenlos, 2018 stimmten seine Prioritäten noch: 5/13 bei Tata Steel, dann Sieg in Berlin. Dito zwei Jahre zuvor für Karjakin (6/13 in Wijk aan Zee). Oder sind Giris typische 50% beim Heimspiel zu gut? In Wijk aan Zee erzielte er oft deutlich mehr Punkte. Noch weiter zurück in die Schachgeschichte: 2014 dominierte Aronian in Wijk aan Zee, ich zitiere aus der anschliessenden Sieger-Pressekonferenz:
Wie werden Sie ihre Form konservieren?
„Ich tue sie in einer Flasche und nehme sie…Wie ich schon in vorherigen Interviews gesagt habe, glaube ich nicht an so etwas wie Form. Lassen sie es mich ausführen: Du spielst nicht gut, weil du vielleicht sehr viel Spinat oder sonstwas isst. Du spielst gut, weil dir die Gegner erlauben, gut zu spielen und es Zeit für dich ist, gut zu spielen. Ich tendiere zu glauben, dass es Momente gibt, in denen die Zeit reif ist für dich ist, zu verlieren oder zu gewinnen.“
Die Frage stammte von mir, und auf chess24 finde ich das immer schnell: Das ist 6 Jahre und viele Artikel her, aber das Wort Spinat taucht offenbar nur einmal auf. Beim Kandidatenturnier dominierte Aronian dann nicht. Noch ein Jahr davor gewann der Tata Steel Sieger Magnus Carlsen danach das Kandidatenturnier, allerdings ohne seinen vorab unterstellten Status als klarer, einziger, haushoher Favorit zu bestätigen.
„Ich glaube nicht an so etwas wie haushohe Favoriten“, eine Ausnahme mache ich für Platz 2: Den bekommt garantiert Maxime Vachier-Lagrave, „knapp daneben ist vorbei“ macht er ja in WM-Zyklen immer. Das wird sich wiederholen, vielleicht auch mit happy end weil der Sieger des Kandidatenturniers dann auf sein WM-Match verzichtet. Nur weil Radjabov kurzfristig vom Kandidatenturnier zurücktrat (Hintergrund Corona) darf der Franzose nun mitspielen.
Laut vielen anderen Quellen sind Caruana und Ding Liren die klaren Favoriten – Tendenz zugunsten von Caruana liegt vielleicht auch daran, dass für einschlägige kommerzielle Seiten der amerikanische Markt wichtiger ist als der chinesische. Für Ding Liren könnte sprechen, dass er und sein Team sich zuletzt zwei Wochen lang voll auf Schach konzentrieren konnten – was soll man in einer Quarantäne-Datscha bei Moskau sonst machen?
Sein Landsmann Wang Hao hatte China rechtzeitig verlassen und war im relativ sicheren Japan, deshalb durfte er kurz vor dem Turnier anreisen. Ju Wenjun machte es genauso und war bei Cairns Cup (privat) und Frauen-GP (FIDE-Turnier) dabei. Was Wang Hao drauf hat, erfahren wir demnächst.
Bleiben noch drei Russen, dazu zuerst eine sichere Prognose: Grischuk wird oft unter Zeitnot leiden, oder geniesst er das etwa? Es hat kaum Einfluss auf seine Ergebnisse, aber ein bisschen wohl doch. Bei Nepomniachtchi vermute ich, dass er relativ selten Remis spielen wird – ohne mich festzulegen, wie oft er gewinnt und wie oft er verliert. Alekseenko gilt allenthalben als Favorit für Platz 8, auch dazu sage ich „abwarten“.
Gespielt wird ab dem 17.3., nach drei Runden gibt es jeweils einen Ruhetag. Die ersten neun Runden sind um 12:00 mitteleuropäischer Zeit, die restlichen fünf um 13:00 hierzulande (offenbar hat Russland keine Sommerzeit). Zuschauen kann man zwar nicht vor Ort (das hatten wohl ohnehin wenige Leser des Schachtickers geplant) aber durchaus hier und da und dort im Internet. Schon in Runde 1 könnten MVL-Caruana und Giri-Nepomniachtchi Fingerzeige zu meinen Prognosen liefern – wobei es ja ein langes und erfahrungsgemäss bis zum Schluss spannendes Turnier ist. Daneben gibt es – so wollte es die manipulierte Auslosung – die Derbys Ding Liren – Wang Hao und Grischuk-Alekseenko. Wenn man die Mehrheitsmeinung teilt, dass Caruana und Ding Liren die beiden klaren Favoriten sind: Sie treffen in Runde 3 und 10 aufeinander, also relativ früh im Turnier.
Die Teilnehmer:
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